Vortrag Prof. Dr. Tobias Seidl, Westfälisches Institut für Bionik, Westfälische Hochschule, Gesellschaft für Technische Biologie und Bionik e.V.
Unsere Gesellschaft und Wirtschaft stehen vor großen Herausforderungen: Klimawandel, Energiekrise, Fachkräftemangel und unsichere Lieferketten bestimmen die täglichen Nachrichten. In einem packenden Vortrag im Rahmen der Reihe „Mensch und Schöpfung“ der Katholischen Akademie Freiburg und der Musella-Stiftung sprach Professor Tobias Seidl über die Möglichkeiten, die Bionik bei der Bewältigung vieler Zukunftsfragen beitragen kann.
Vorsprung durch Evolution
Das Ziel der Bionik ist es, Phänomene der Natur in technische Innovationen umzusetzen. Der Prozess zieht sich dabei von der Forschung über die Entwicklung bis hin zur Anwendung und marktreifen Produktion. Bionik hat das Potential, langfristige Trends zu antizipieren und fundierte Antworten auf technische und gesellschaftliche Probleme zu liefern. Dabei kann sie auf den reichhaltigen Fundus der Natur zurückgreifen, der sich durch die Evolution entwickelte. Ein schönes Beispiel für die Anpassung an die Umwelt sind Pinguine, die im Wasser fliegen, da es sich nach wie vor um Vögel handelt. Im Laufe der Evolution wurde ihre Körperform auf die Widerstandsreduktion hin verändert.
In allen Bereichen lassen sich die Entwicklungen der Evolution in die Bionik einbinden. Die Spannweite reicht vom Molekül, über die Zelle, Organe und Organismen bis zu kollektivem Verhalten. Konkrete Beispiele aus der Forschung sind Grundlagen der Aerodynamik, die am Vogelflug untersucht werden, Dübel für Leichtbauwände nach Vorbild der Zecke oder ein Roboterarm mit sanftem Greifer nach Vorbild von Elefanten.
Was kann Bionik?
Bionikerinnen und Bioniker beschäftigen sich mit Produkten der übernächsten Generation und überlegen dabei, was in der Zukunft technisch möglich sein könnte und was nötig sein wird. Sie lernen, sich aus Naturwissenschaften, Technik und klassischer Biologie zu bedienen und diese Themen miteinander zu verknüpfen. Durch den anschließenden Produktentwicklungsprozess entsteht Erfindergeist.
Bionik kann viele technische Innovationen bieten, insbesondere bei Anpassungen an sich verändernde Bedingungen. Komplexe Fragen können nur heuristisch beantwortet werden, das bedeutet, eine gute Lösung auf der Hand ist besser als die perfekte Lösung auf dem Dach. Neuerfindungen basieren dabei auf langen Vorarbeiten, bekanntes wird besser angeordnet.
Vorbild Natur: Wie Bionik mit technischen Innovationen unsere Zukunft vorwegnimmt
Freijagende Spinnen beispielsweise können springen oder mit zwei Beinen das Opfer festhalten und sich gleichzeitig mit den sechs anderen Beinen an einer Wand festhaften. Das System funktioniert wie ein Klettverschluss ohne Gegenstück. Dabei wirken Kräfte wie bei Wassermolekülen, die die Spinne nutzt, um sich an der glatten Oberfläche festzuhalten. Daraus entwickelte Roboter können mit diesen Haftprinzipien Wände hochlaufen. Die Haftsysteme können aber auch leicht wieder gelöst werden.
Flügel von Ohrenwürmern sind Meisterwerke im Falten, daraus können Flügel nachgebaut werden. Deren Einsatzgebiet könnten bei Drohnen Anwendung finden, welche bei medizinischen Notfällen eingesetzt werden.
Ein weiteres Beispiel stammt aus der Botanik: Zellen tauschen über Ventile Stoffe mit ihren Nachbarn aus. Diese Ventile können bei Gefahr geschlossen werden. Bei der Anwendung in der E-Mobilität können über vergleichbare technisch übertragene Ventile E-Autos einfach im Stand gekühlt werden. Normalerweise geschieht dies nur mit hohem Energieaufwand.
Wenn die Menschheit die Klimakrise bewältigen will, benötigt sie dafür auch neue Technologien und smartere und nachhaltigere Produkte. Die Bionik kann mit dem Ideenreichtum der Natur dazu beitragen. Aber auch nur wenn der Mensch es will und die Entwicklungen sinnvoll einsetzt. Insofern antwortet Seidl auf die im Vortragstitel gestellte Frage mit einem entschlossenen Jein.
Dr. Stephan Seiler
Aufzeichnung des Vortrages in der Katholischen Akademie